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20 Jahre Große EU-Osterweiterung – Zwischenbilanz und Perspektiven | Einwurf von EUD-Präsident Rainer Wieland

Noch vor dem Europatag gibt es ein weiteres wichtiges Jubiläum. Am 1. Mai jährt sich zum 20. Mal die Große EU-Erweiterung. 2004 traten acht mittelosteuropäische Staaten, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, die baltischen Republiken, Slowenien sowie Malta und Zypern als neue Mitglieder der Union bei, die damals auf 25 Mitglieder anwuchs. Die fünfte und bis dato größte EU-Erweiterung war ein Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung Europas, der mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Herbst 1989 möglich geworden war.

EUD-Präsident Rainer Wieland MdEP. Foto: Gerolf Mosemann / EUD

2007 folgten Bulgarien und Rumänien, 2013 Kroatien. Die EU hatte allerdings nur für wenige Jahre 28 Mitglieder. 2016 votierten die Briten in einem Referendum für den Austritt, der 2021 wirksam wurde. Die EU wird aber weiterwachsen, auch wenn namhafte Politikwissenschaftler wie Herfried Münkler vor einer „imperialen Überdehnung“ warnen. Lange schon warten die Westbalkan-Staaten auf ihren Beitrittsmoment. Immerhin sind nun fast alle Beitrittskandidaten. Lediglich Kosovo hat bisher nur den Status eines potentiellen Beitrittskandidaten. In einer beeindruckenden europäischen Antwort auf den russischen Überfall auf die Ukraine sind die Ukraine, Georgien und Moldawien Beitrittskandidaten geworden. Die Türkei steht seit vielen Jahren ohne konkrete Perspektive im Warteraum.

Beitritte sind aber kein Selbstzweck! Nach wie vor gibt es begründete Zweifel an der Beitrittsreife einzelner europäischer Staaten. Ich hatte den Beitritt Rumäniens und Bulgariens damals für verfrüht angesehen und ich bin heute mehr denn je der Überzeugung, dass politische Rabatte im Beitrittsprozess fehl am Platze sind. Mindestens müssen Defizite bei der Erfüllung von Beitrittskriterien zum Zeitpunkt eines Beitritts klar benannt und verbindliche Zielvereinbarungen getroffen werden. Probleme im Blick auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die sich seit Jahren in Ungarn, aber auch in der Slowakei und phasenweise in Bulgarien und Rumänien zeigen, sind sonst vorprogrammiert und Kurskorrekturen, wie sie sich in Polen zeigen, dauern viel zu lange..

Umgekehrt streiten sich überzeugte Europäerinnen und Europäer auch heute darüber, ob die Union nicht weiter vertieft werden muss, bevor neue Mitglieder hinzukommen. Der Fehler, die notwendigen Reformen der EU seinerzeit nicht vor der Erweiterung 2004 abgeschlossen zu haben, darf sich nicht wiederholen.

Dieser Streit bedarf des Diskurses auch in den Mitgliedsstaaten, an dessen Ende für die Gewichtung zwischen den berechtigten Interessen einzelner Mitglieder der Union und die damit verbundenen Sorgen ihrer Bürgerinnen und Bürger einerseits und der lähmenden Notwendigkeit andererseits, Vetospieler erst aus ihrem – oft aus sachfremden Erwägungen oder überzogenen Erwartungen geleisteten  – Widerstand zu hohen politischen Kosten herauskaufen zu müssen, eine neue Balance gefunden werden muss. Noch mehr potentielle Vetospieler im Rat würden die Handlungsfähigkeit der EU jedenfalls gefährden.

Die Forderung der überparteilichen Europa-Union Deutschland, bestehende Einstimmigkeitsregeln  aufzugeben und zu transformieren bezieht sich deshalb auch auf Vertragsänderungen und Beitrittsfragen. Allerdings kann nachvollzogen werden, dass die politische Kluft zwischen der Einstimmigkeit und der jetzt in den Verträgen vorgesehenen qualifizierten Mehrheit auch bei gewachsenem Vertrauen innerhalb der Union von einigen ihrer Mitglieder als zu groß angesehen wird. Die Europa-Union begrüßt deshalb die vom Europäischen Parlament entwickelten Gedanken, zwischen der qualifizierten Mehrheit und der Einstimmigkeit eine superqualifizierte Mehrheit als vertrauensbildende Übergangshilfe hin zu weniger Einstimmigkeitsregeln zu etablieren.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass solche Reformen, die auf schnellere Entscheidungen und die Marginalisierung von Vetospielern zielt, auch einer Antwort und der Begleitung durch die bundesdeutsche Verfassung bedürfte. Es geht dabei um nichts weniger als um die Antwort auf die Frage, ob angesichts neuer, realer, sehr konkreter und teilweise vitaler Herausforderungen das Versprechen der Präambel unseres Grundgesetzes auch im 21. Jahrhundert noch eingelöst werden kann.       

Und dies gilt nicht nur für die Frage von Beitritten und die formalen Voraussetzungen von Vertragsänderungen, sondern auch um deren Inhalt. Konkreter: Welche Politikfelder müssen notwendigerweise aus der Einstimmigkeit der intergouvernementalen Politik übergeführt werden und mit welcher Transformation der Zusammenarbeit kann dies gelingen.

Auf einigen Politikfelder wirkten die Krisen der letzten 15 Jahre als so starkes Brennglas, dass die zutagegetretenen dunklen Schatten der Handlungsdefizite das öffentliche Bewusstsein in einem Maße verändert hat, hinter dem der Handlungswille der Politik zurückzubleiben droht.

Am deutlichsten wird dies auf dem Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dort hat die geopolitische Lage auch deutlich gemacht, dass ein Vakuum schnell instabil werden kann. Europäische Staaten, die bereits Mitglieder der EU und insbesondere der Nato sind, kann Russland nicht ohne weiteres angreifen. Mittlerweile sind nur noch Irland, Malta, Österreich und Zypern keine Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses, das nach wie vor Europas Sicherheitsgarant ist. Ihre Neutralität ist im Grunde auch nur in einem Umfeld möglich, in dem es ein Sicherheitsbündnis wie die Nato gibt. Indirekt profitieren diese Staaten, ebenso wie die eng an die EU assoziierte Schweiz erheblich von den Verteidigungsbeiträgen ihrer Nachbarn. Angesichts des russischen Angriffskriegs haben Finnland und Schweden mit unerhörter Schnelligkeit und Entschlossenheit entschieden, ihre Neutralität zugunsten der Mitgliedschaft im westlichen Bündnis aufzugeben.

Auch die EU könnte für EFTA Staaten wie Norwegen interessanter werden. Großbritannien, das sich als Champion der EFTA und seines Commonwealth sah, muss feststellen, dass die Brexit-Kosten enorm hoch sind, wirtschaftlich und politisch. Und das Commonwealth, das die Brexiteers erträumten, existiert nur noch auf dem Papier. Das einstige britische Kronjuwel Indien ist mittlerweile das bevölkerungsreichste Land der Welt und nicht nur das: es schickt sich an, zu einer Weltwirtschaftsmacht aufzusteigen. Eine besondere britische Führungsrolle gibt es in dieser Welt im Wandel nicht mehr.

Neben den USA, China und Indien, vielleicht noch Japan, hat Europa nur dann eine Chance, wenn es vereint und geeint auftritt, zur Eindämmung der großrussischen Aggression beiträgt und insgesamt handlungsfähiger wird. Die EU bietet dafür alle Voraussetzungen. Ihre Verträge erlauben auch kurzfristig gebotene Anpassungen und sie sehen mit der Konventsmethode einen Weg zu noch tieferen, perspektivisch notwendigen Reformen vor, der jetzt beschritten werden muss.

Das größere Europa und die EU stehen vor der Herausforderung, größer und gleichzeitig handlungsfähiger zu werden. Der „imperial overstretch“, die Überdehnung, bleibt eine reale Gefahr. Mächten, die dem European Way of Life feindlich gegenüberstehen, weiteren Raum zu geben, ist keine überzeugende Option. Wir Europäerinnen und Europäer beschreiten in dieser unruhigen Welt des 21. Jahrhunderts einen schmalen Grat zwischen Erfolg und Scheitern.

Der 1. Mai 2024 ist deshalb nicht nur ein Tag der Freude, sondern auch der Mahnung. Er erinnert eben auch daran, dass Europa geteilt war. Mit all den Folgen, die das für das Leben von vielen Millionen Europäerinnen und Europäern hatte. Schließlich ist der 1. Mai 2024 auch ein Auftrag. Es ist an uns, es jetzt richtig zu machen. Denn die EU wird keine weiteren 20 Jahre haben, die europäische Einheit und ihre Institutionen an die Erfordernisse der Zeit anzupassen und für die Zukunft zu ertüchtigen. Wenn wir aufhören, zukunftsfähig zu sein, werden wir nicht gegenwartsfähig bleiben!

Rainer Wieland MdEP, Präsident der Europa-Union Deutschland e.V.